Gemeinschaft

Der Unterschied zwischen Liebes- und Sorgebeziehungen

Zwei Menschen, die alles für einander sind und alles miteinander teilen, möglichst ein Leben lang: So will es die patriarchale Romantik.

Wir sprechen hier von «Ausschliesslichkeitsbeziehungen»: Nicht die Beziehung selbst, sondern ihre Form soll ewig währen, sprich die Ehe oder die eheähnliche Gemeinschaft.

Als Gipfel der patriarchalen Romantik gelten zwei Individuen, die, einzig und allein aufeinander bezogen, dem Sonnenuntergang entgegenfahren oder -reiten: «Lass uns miteinander fortgehen!» «Rom, Paris, London, New York!» «Lass uns irgendwo ganz neu anfangen!»
Matthias Fersterer in Oya #62

Das Problem ist, dass hier Liebes- mit Sorgebeziehungen vermischt werden bzw. dass beides mit ein- und demselben Menschen gelebt werden soll. Ein einziger Mensch soll uns alles geben, was wir brauchen, damit wir uns sicher, geborgen und begehrt fühlen.

Mit diesem Menschen wollen wir sexuelle Ekstase erleben, die gemeinsame Steuererklärung ausfüllen, über häusliche Rechte und Pflichten diskutieren und ihn umsorgen, wenn er mit einer Magen-Darm-Grippe darniederliegt.

Und sollte dieser Mensch im Alter gebrechlich, dement oder unausstehlich werden, dann bleiben wir trotzdem bei ihm, denn erstens gehört sich das so und zweitens wüssten wir nicht, wohin wir gehen sollten.

Nichts ist schlimmer, als allein zu sein

Alles Lebendige ändert seine Form. Menschen entwickeln und verändern sich, aber nicht notwendigerweise gleich. Das romantische Narrativ geht davon aus, dass das, was mit 25 gepasst hat, auch mit 45 und mit 70 Jahren noch passt. Wenn nicht, macht man es irgendwie passend, um sich nicht trennen zu müssen, denn schliesslich steht viel auf dem Spiel: Gemeinsamer Besitz, gemeinsamer Freundeskreis, die lieben Verwandten, das traute Heim, die Kinder, die Gewohnheiten.

Und überhaupt: Zu zweit ist man einfach weniger alleine – und nichts ist schlimmer, als alleine zu sein. Das ist tatsächlich des Menschen grösste Angst, denn als soziale Wesen brauchen wir Gemeinschaft.

Dieses Bedürfnis ist tief in unseren Reptilienhirnen verankert: Ein Mensch alleine ist nicht überlebensfähig. Das ist heute zwar nicht mehr unbedingt die Realität, aber ein Teil von uns empfindet immer noch so. Kommt dazu, dass die Nervensysteme miteinander kommunizieren und einander co-regulieren. Die Anwesenheit anderer Menschen beruhigt uns und vermittelt uns Sicherheit (sofern diese anderen Menschen nicht selber komplett von der Rolle sind).

Agape, eros, philia, storge: Formen der Liebe

Von allen Seiten wird uns ein Leben lang eingetrichtert, dass die romantische Liebe ein Zustand ist, der ewig währen kann, wenn man nur die Richtige oder den Richtigen gefunden hat. Das höchste der Gefühle ist AMEFI: Alles Mit Einem, Für Immer.

Besungen und beschworen wird nichts Geringeres als die ewige Liebe, aber diese gibt es in unterschiedlichen Formen:

  • Agape bedeutet eine göttliche oder von Gott inspirierte uneigennützige Liebe, insbesondere auch die gegenseitige Liebe der Christen.
  • Eros ist in der griechischen Mythologie der Gott der begehrlichen Liebe.
  • Philia bezeichnet eine Liebe, bei der die freundschaftliche Beziehung im Vordergrund steht.
  • Storge kennzeichnet im griechischen Sprachgebrauch die Familienliebe: Eltern und Kinder, Geschwister, Verwandte und Bekannte.

Die romantische Zweierbeziehung, wie wir sie kennen, ist ein riesiges Durcheinander aus all diesen Formen der Liebe, angereichert mit unseren (frühkindlichen) Prägungen und Projektionen. Letztere sorgen zuverlässig für Enttäuschungen, Frust und jede Menge Zündstoff in der Beziehung, weil wir alle mit unserer Herkunftsfamilie verstrickt sind und weil jeder Mensch sein inneres verletztes Kind mit in die Beziehung bringt, wo es sich dann zofft mit dem inneren verletzten Kind des Partners oder der Partnerin.

Die Vermischung von Liebes- und Sorgebeziehungen resultiert in einem gigantischen Klumpenrisiko: Wir hängen all unsere Hoffnungen und die Erfüllung unserer Bedürfnisse an einen einzigen Menschen, was früher oder später dazu führt, dass Leidenschaft und Erotik auf der Strecke bleiben. (Ausnahmen bestätigen die Regel.)

Manche trennen sich in solchen Situationen, andere arrangieren sich irgendwie, um sich nicht trennen zu müssen. Ausserdem geht es doch allen Paaren so, die schon länger zusammen sind, oder?

Was also ist die Lösung?

Liebes- und Sorgebeziehungen trennen

Liebesbeziehungen im Sinne von sexuellen Beziehungen leben von erotischer Anziehung. Sorgebeziehungen sind solche, die gewährleisten, dass wir für einander sorgen, beispielsweise Eltern für Kinder oder jüngere für ältere. Es ist total sinnvoll, das zu trennen.

Wenn Menschen wirtschaftlich und sozial in ihren Gemeinschaften eingebunden sind, wie es in matrifokalen Gemeinschaften der Fall ist, führen nur Zuneigung und freier Wille zu einer (sexuellen) Beziehung. Diese dauert dann so lange, wie beide Beteiligten Freude daran haben. Wird die Beziehung aufgelöst, endet die Liebesbeziehung, nicht aber die Sorgebeziehungen: Diese werden innerhalb der Gemeinschaft gepflegt und funktionieren unabhängig von Liebesbeziehungen.

Die Besuchs- oder Wanderehe

In matriarchalen Gemeinschaften gibt es die Besuchs- oder Wanderehe. Und die geht so:

Zwei Menschen teilen sich eine Liebesbeziehung, die Monate, Jahre oder auch Jahrzehnte dauern kann. Angenommen, es handelt sich um eine Frau aus Clan A und einen Mann aus Clan B. Der Mann kann im Clan der Frau wohnen, so lange beide das wünschen und es gut läuft. Frau und Mann sind in keiner Weise von einander abhängig, weder wirtschaftlich noch sozial. Was sie miteinander haben, sind einzig und allein gegenseitige Zuneigung und erotische Anziehung.

Kommt es zur Trennung, weil beispielsweise die Erotik verpufft ist, geht der Mann in seinen Clan zurück und niemandem geht etwas verloren. Niemandem geschieht ein Leid, auch nicht den Kindern. Denn sollten dieser Verbindung Kinder entsprungen sein, bleiben sie im Clan der Mutter. Der leibliche Vater kann, muss aber nicht Verantwortung übernehmen, denn die Erwachsenen im Clan sind kollektiv verantwortlich für die Kinder.

Fassen wir zusammen: Die Trennung von Liebes- und Sorgebeziehungen stellt sicher, dass sexuelle Beziehungen nur so lange bestehen, wie die Beteiligten dies wünschen. Endet die Liebesbeziehung, hat dies keinen Einfluss auf die Sorgebeziehungen, die innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft bestehen. Diese sind und bleiben stabil, so dass alle, die in der Gemeinschaft leben, in Sicherheit sind, auf Lebenszeit.

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Foto von National Cancer Institute auf Unsplash