Leiden Frauen an kollektivem Stockholm-Syndrom?
Die Patriarchalisierung Europas begann vor zirka 7000 Jahren mit Frauenraub und Entführung. Die Vaterbindung ist letztlich erzwungen und dient dem Erhalt des patriarchalen Systems.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Jeder noch so liebende Vater und Ehemann ist kraft des Gesetzes ein Patriarch – und möglicherweise leiden die Frauen von heute allesamt an einem kollektiven Stockholm-Syndrom, denn in gewisser Weise sind sie ja alle Entführungsopfer.
Damit liesse sich erklären, warum Frauen den Anspruch der Männer auf ihre leiblichen Kinder und das damit verbundene Vaterrecht unterstützen.
Das Stockholm-Syndrom: Solidarität mit den Tätern
Am 23. August 1973 wurde in Stockholm die Schwedische Kreditbank am Norrmalmstorg überfallen. Vier Angestellte wurden als Geiseln genommen und blieben mehr als fünf Tage in der Gewalt der Geiselnehmer. Die Medien berichteten über den Fall, und es zeigte sich, dass die Geiseln offenbar mehr Angst vor der Polizei als vor den Geiselnehmern hatten. Wieder in Freiheit, empfanden die Opfer weder Hass noch Rachegedanken für die Kriminellen – im Gegenteil: Sie waren ihnen dankbar dafür, freigelassen worden zu sein, baten um Gnade für die Täter und besuchten sie sogar im Gefängnis.
Seither versteht man unter dem Stockholm-Syndrom das psychologische Phänomen, dass Opfer von Geiselnahmen ein emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann so weit gehen, dass die Opfer gar mit ihren Entführern kooperieren und sie gegen aussen verteidigen.
Als Ursachen des Stockholm-Syndroms werden unter anderem genannt:
- Wahrnehmungsverzerrung infolge der Einsamkeit einer Geiselnahme
- Übersteigerte Wahrnehmung vom Agieren der Täter; bereits kleinste Zugeständnisse werden als Akt grosser Gnade empfunden
- Häufig verhalten sich die Täter gegenüber den Geiseln als relativ wohlwollend, weil sie eine Art Schutz für diese darstellen
- Identifizierung mit den Zielen der Täter als Selbstschutz bzw. Kompensation des maximal eingetretenen Verlusts der Selbstständigkeit und Kontrolle, die eine Geiselnahme mit sich bringt
(Quelle: Wikipedia)
Frauen verteidigen die «Rechte der Väter»
Viele Frauen reagieren mit Entrüstung, wenn die «Rechte der Väter» am leiblichen Kind in Frage gestellt werden. Insbesondere Frauen, in deren Familie es gut läuft, schätzen die «väterlichen Qualitäten» ihres Partners und möchten sie nicht missen. Sie verteidigen das «natürliche Recht der Kinder» zu wissen, wer ihr Vater sei und Kontakt mit ihm zu pflegen. Sie erleben den Beitrag des Vaters/Partners in der Familie und das Einbringen der männlichen Energie als bereichernd, harmonisierend und stabilisierend und sind überzeugt, dass alle davon profitieren.
Auch die systemische Therapie einschliesslich des Familienstellens geht davon aus, dass Mutter und Vater je 50 Prozent zum Kind «beigetragen» haben und somit als gleichwertig zu betrachten seien. Es heisst dort, der Vater gebe dem Kind die Wurzeln, und nicht umsonst heisse es «Vaterland».
Für Frauen ist der Einsatz ungleich höher
Lasst uns an dieser Stelle kurz innehalten und nachdenken über das, was Frauen und Männer riskieren und investieren, wenn es um den Nachwuchs geht.
Jede Frau, die ein Kind zur Welt bringt, riskiert dafür ihr Leben. Auch heute noch.
Frauen stellen dem heranwachsenden Wesen ausserdem ihren Körper zur Verfügung, neun Monate lang plus Stillzeit. Während schätzungsweise 40 Jahren menstruieren Frauen einmal im Monat, was für viele eine Qual ist, weil sie ihr natürliches Bedürfnis nach Rückzug unterdrücken und selbstverständlich auch während dieser Tage ihren «Mann» im Beruf stehen müssen. Regelschmerzen sind kein Krankheitsgrund. Wozu gibt es schliesslich Medikamente?
Im Anschluss an die fruchtbare Zeit schlagen sich viele Frauen mit den Wechseljahren herum, manche während Jahren. All dies geschieht zur Sicherung der Fortpflanzung.
Und was investiert der Mann, rein physisch? Ich habe recherchiert: Zwei bis sechs Milliliter Ejakulat.
Die Frau leistet also wesentlich mehr – nicht nur während der Schwangerschaft und Stillzeit, sondern ihr Leben lang. Sie trägt ausserdem das ganze Risiko. Dessen ungeachtet soll der Vater am Kind die gleichen Rechte haben und soll die Vaterbindung der Mutterbindung ebenbürtig sein. Was hat sich die Natur bloss dabei gedacht?
Muss es wirklich der leibliche Vater sein?
Nun wissen wir aus zahlreichen Berichten, dass beispielsweise Menschen, die ihren leiblichen Vater nicht kennen, zeitlebens in gewisser Weise auf der Suche nach ihm sind. Viele berichten von einem Gefühl des Nicht-zugehörig-Seins; dass sie nicht genau wüssten, wo sie hingehören, und der grossen Erleichterung, die sich einstellte, als sie ihren leiblichen Vater fanden bzw. endlich wussten, von dem sie abstammen.
Dass all dies so empfunden wird, wird hier nicht bezweifelt. Aber ist es ein Beweis dafür, dass die Rolle des leiblichen Vaters genau so wichtig ist wie die der Mutter? Oder kann es sein, dass wir es hier mit patriarchalen Prägungen zu tun haben? Immerhin steckt uns das Patriarchat seit mehreren tausend Jahren in den Knochen. Es lehrt uns, dass der Ursprung beim Vater ist – und dass das männliche Prinzip dem weiblichen vorzuziehen sei.
Es kann also gut sein, dass wir alle einen kollektiven Dachschaden haben.
(Photo by Ivo Silva on Unsplash)
Mehr dazu
- Das patriarchale Stockholm-Syndrom, auf dem Blog von Stephanie Ursula Gogolin
- Die stolzen Reiter von Lesotho, Film von arte.tv (Link zu YouTube)
Patriarchatsforscherin Gabriele Uhlmann über «Die stolzen Reiter von Lesotho»:
«Der Film veranschaulicht nicht nur, wie Viehzüchter ein Patriarchat errichten, sondern auch wie Patrilokalität und Patrilinearität bis heute ohne jede Rücksicht auf die junge Mutter und ihr Kind umgesetzt und bewertet wird, nämlich als für Mann und Staat selbstverständliches Opfer. Es geht uns alle an, nicht nur die Frau des „stolzen Reiters“. Denn was bedeutet es für Kinder, mit einer leidenden Mutter groß zu werden! Die Epigenetik selbst liefert uns erschütternde Erkenntnisse, wie sich das Leid von einer Generation auf die nächste vererbt. Die Kosten-Nutzen-Rechnung geht nur kurzfristig für die Männer auf, langfristig bringt diese Mathematik die Menschheit in existentielle Gefahr.»


