Die Leidenschaft, sie ruhe sanft
Wer mit seinem Partner/seiner Partnerin jahrelang über den Haushalt, die Kinder, die Finanzen und die Organisation des Alltags diskutiert, wird es vermutlich irgendwann schwierig finden, in ihm oder ihr das Objekt der sexuellen Begierde zu sehen.
Liebe und Leidenschaft sind nämlich zwei verschiedene Dinge:
- In der Liebe geht es ums Haben. Erotik lebt vom Wollen.
- Die Liebe geniesst es, wenn sie alles von dir weiss. Verlangen aber braucht das Unbekannte, Mysteriöse, Prickelnde.
- Liebe sucht Nähe. Erotik braucht Distanz.
Sicher, man kann sich anstrengen, Tantra-Kurse besuchen und allerlei Sachen ausprobieren. Nicht wenige Beziehungsratgeber sprechen sich für die «bewusste Monogamie» aus. Propagiert wird «Conscious» oder «Awakened Monogamy», und wenn damit gemeint ist, dass man nicht wahllos mit allen in die Kiste springt, die einem gerade über den Weg laufen, stimme ich dem zu. Sexuelle Kontakte bedeuten immer einen Austausch von Energie.
Doch die Frage lautet: Warum soll man mit seinem Sexualpartner/seiner Sexualpartnerin unter einem Dach wohnen und einen gemeinsamen Haushalt führen?
Wodurch erlischt das Verlangen?
Die Autoren Christopher Ryan und Cacilda Jetha haben in ihrem Buch Sex – Die wahre Geschichte das Narrativ der monogamen Paarbeziehung unter die Lupe genommen und schreiben:
In Wahrheit sind wir, genau wie Bonobos und Schimpansen, die triebgesteuerten Nachkommen hypersexueller Vorfahren. Das mag übertrieben klingen, doch es sind schlichte Fakten, die eigentlich zur Allgemeinbildung gehören sollten. Die Konvention der monogamen Bis-dass-der-Tod-euch-scheidet-Ehe droht unter dem Ballast einer falschen Überlieferung zu kollabieren, die uns beharrlich eine andere Identität andichten will. (…)
Der Gegensatz zwischen dem, was wir fühlen sollen, und dem, was wir tatsächlich fühlen, ist möglicherweise die Hauptursache von Verwirrung, Unzufriedenheit und unnötigem Leid. Die üblichen Antworten lösen ja nicht das Rätsel, das unser Liebesleben durchzieht: Warum sind Männer und Frauen in ihren Sehnsüchten, Fantasien, Reaktionen und in ihrem Sexualverhalten so verschieden? Warum betrügen wir einander und lassen uns immer häufiger scheiden, sofern wir überhaupt noch heiraten? Woher kommen die Heerscharen alleinerziehender Mütter und Väter? Warum verschwindet die Leidenschaft schon bald nach der Hochzeit? Wodurch erlischt das Verlangen?
Zumindest letztere Fragen können wir jetzt beantworten: Die Leidenschaft verpufft im Bermuda-Dreieck von erotischer Anziehung, wirtschaftlicher Abhängigkeit und dem Aufziehen von Kindern. Zu grosse körperliche und seelische Nähe erschlägt die Erotik und bringt die Partner dazu, auf andere Art auf Abstand zu gehen.
Anatomie und Physiologie des Menschen sprechen eindeutig für eine prähistorische Promiskuität
Ach, und übrigens: Weder die Beschaffenheit noch die Anordnung unserer Sexualorgane legen den Schluss nahe, dass die Monogamie das natürliche Beziehungsverhalten des Menschen sein könnte – ganz im Gegenteil. Anatomie und Physiologie sprechen eindeutig für eine prähistorische Promiskuität.
Christopher Ryan und Cacilda Jetha schreiben dazu:
Auch unsere Körper bezeugen diese Geschichte. Menschliche Männer haben weit grössere Hoden, als ein monogamer Primat sie jemals benötigen würde, und sie sind obendrein sehr verletzlich ausserhalb des Körpers angebracht, wo die kühlen Temperaturen dazu beitragen, dass jederzeit genügend Samenzellen für multiple Ejakulationen bereitgehalten werden. Unter allen Primaten auf diesem Planeten sind Menschen ausserdem mit den längsten und dicksten Penissen bestückt und kommen tendenziell beschämend schnell zum Orgasmus. Die herabhängenden Brüste der Menschenfrauen (für das Stillen völlig überflüssig), ihre unüberhörbaren Lustschreie (der Fachterminus lautet weibliche Kopulationsrufe) und ihre Fähigkeit zu multiplen Orgasmen – das alles sind Belege für eine prähistorische Promiskuität.
Und was die Präferenzen angeht: Oft hört man, es sei ganz normal, dass Frauen bei der Männerwahl auf gutes Einkommen und Status achten, weil sie auf der Suche nach einem Versorger für sich und ihre (künftigen) Kinder seien. Dies erklärt auch das beliebte Modell «junge Frau/älterer Mann». Umgekehrt suchen ältere Männer die Gesellschaft jüngerer Frauen, weil sie sich von deren Energie nähren. Es ist eine Form von Vampirismus.
Christopher Ryan und Cacilda Jetha führen auch dieses angeblich uns angeborene Verhalten auf patriarchale Verhältnisse zurück:
Die scheinbar weibliche Präferenz für potenziell wohlhabende Männer ist keine angeborene evolutionäre Programmierung, wie das Standardmodell behauptet, sondern einfach eine Verhaltensanpassung in einer Welt, in der Männer einen überproportional grossen Anteil der Ressourcen kontrollieren. Wie wir noch im Detail erörtern werden, hatten Frauen vor der Neolithischen Revolution vor hundert Jahrhunderten normalerweise den gleichen Zugang zu Nahrung, Schutz und sozialer Unterstützung wie Männer. Erst durch den Wechsel zur Sesshaftigkeit* und zu der damit verbundenen, radikal veränderten Gesellschaftsordnung fanden sich Frauen plötzlich in einer Welt wieder, in der sie ihre Reproduktionskapazitäten gegen den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen eintauschen mussten.
(*Anmerkung: Nach dem aktuellen Stand der Forschung begann Patriarchalisierung nicht mit dem Wechsel zur Sesshaftigkeit, sondern mit dem Aufkommen der Rindernomaden. Siehe auch: Wie fing das eigentlich an mit dem Patriarchat?)
Die Suche nach dem/der Richtigen
Das Narrativ der Zweierkiste lässt uns glauben, eine dauerhafte romantische Paarbeziehung sei die Norm. Befeuert wird dieses Narrativ tagein, tagaus mit entsprechenden Botschaften, mit Büchern, Filmen und Liedern, in denen die ewige Liebe beschworen wird. Kein Wunder, verbringen nicht wenige Menschen ihr ganzes Erwachsenenleben mit der Suche nach der/dem Richtigen. AMEFI nennt sich das – Alles Mit Einem Für Immer.
Eine/n Lebenspartner/in zu finden, steht ganz oben auf der Wunschliste sehr vieler Menschen. Auch das kann nicht erstaunen angesichts der Tatsache, dass in unserer patriarchalen Gesellschaft erotische Beziehungen mit Lebensgemeinschaften, sozialer und finanzieller Sicherheit verknüpft werden – und mit unserem Bedürfnis nach Geborgenheit und Zugehörigkeit.
Damit haben wir auch die Antwort auf die oben gestellte Frage, warum man mit seiner/seinem Sexualpartner/in unter einem Dach wohnen oder zumindest eine feste Beziehung haben möchte. In Ermangelung einer Gemeinschaft brauchen wir eine/n Partner/in, damit wir nicht alleine sind, damit uns jemand zuhört, damit sich jemand um uns kümmert. Damit wir in Sicherheit sind.
Das mag alles legitim sein – doch mit Leidenschaft hat es nichts zu tun.
Mehr dazu
- Sex – Die wahre Geschichte, hier bei Wild & mutig
- Mating in Captivity, von Esther Perel


