Neues Feuer für altes Eisen
Endlich in Rente! Endlich können wir tun und lassen, was wir wollen! Wir haben 40 oder mehr Jahre geschuftet, und jetzt ist Schluss. Jetzt wollen wir das Leben geniessen und uns den Dingen widmen, die all die Jahre wegen der Arbeit immer zu kurz kamen. Dabei dauert das Alter heute länger als früher. Wir werden nicht nur älter, sondern sind im Alter auch tendenziell gesünder – und fitter. Was fängt man an mit so viel Lebenszeit?
Für viele Pensionärinnen und Pensionäre heisst das konkret, dass sie (Finanzen vorausgesetzt) sehr viel reisen und sich leisten, was ihnen Freude macht. Senioren und Babyboomer sind eine mächtige Konsumentengruppe. Die «Graue Revolution» schaffe einen riesigen Seniorenmarkt, titelte die NZZ am 27. August 2015, und im Artikel erfahren wir, wofür Seniorinnen und Senioren viel Geld ausgeben, nämlich für Medizin- und Gerontotechnik, Altenpflege, Reha, Präventivmedizin, Kosmetika, Ernährungsprodukte, Autos, Hobby-Ausrüstungen, Haushaltsgeräte, Bekleidung, Finanzanlagen, Fortbildung, Reisen und Luxusprodukte.
Für mehr Sinnhaftigkeit im Alter
Der Philosoph Ludwig Hasler (Jahrgang 1944) plädiert in seinem Buch Für ein Alter, das noch etwas vor hat für mehr Sinnhaftigkeit im Alter. Wer im wohlverdienten Ruhestand keinen Beitrag an das Zusammenleben in der Gemeinschaft leiste, fordere ein Recht auf Passivmitgliedschaft in der Gesellschaft.
Hasler betont in einem Interview mit dem Magazin «reformiert», er spreche nicht die Menschen an, die vierzig Jahre auf dem Bau gearbeitet hätten oder von einer Krankheit geplagt seien. Sondern jene, «die nach ihrer Erwerbszeit gesund und fidel ihr Vermögen und ihre Zeit in Reisen oder Spitzensport für Betagte investieren und damit den Generationenvertrag arg strapazieren. Jene, die sich ausschliesslich um sich selber kümmern, um sich dann über ihre Bedeutungslosigkeit zu beklagen.» Das gehe nicht auf.
Wer etwas für andere tut, dem geht es besser
Man solle sich nützlich machen, in einem Seniorenrat zum Beispiel, wo man sich gegenseitig unterstütze, oder indem man in einer Schulklasse mithelfe, ein Ehrenamt übernehme oder die Enkelkinder betreue; gute Gesundheit vorausgesetzt. Ähnliches fordert der Philosoph Richard David Precht mit seinem «sozialen Pflichtjahr für Senioren». Diese könnten Kindern bei den Hausaufgaben helfen oder in Schulen, wie sie Precht vorschweben, beim Unterrichten helfen und ihre Lebenserfahrung einbringen.
Man weiss aus zahlreichen Studien, dass es Menschen besser geht, wenn sie etwas für andere tun. Damit ist nicht gemeint, dass man sich für andere aufopfern und die eigenen Bedürfnisse vernachlässigen soll. Aber wer sich nicht mehr um Kinder, Karriere und das Abbezahlen der Hypothek kümmern muss, kann sich durchaus überlegen, wie er seine (Lebens-)Zeit sinnvoll investieren könnte.
Wir sollten früher anfangen, etwas vom Leben zu haben
Es könnte mit unserer Auffassung von Arbeit zusammenhängen, dass wir denken, wir müssten im Ruhestand nichts mehr tun. Schliesslich haben wir der Arbeit unsere besten Jahre geopfert und dafür Schmerzensgeld in Form eines Gehalts bezogen. Nun, da wir endlich befreit sind vom Joch der Werktätigen, wollen wir noch etwas vom Leben haben.
Vielleicht sollte man früher damit anfangen, etwas vom Leben zu haben. Und vielleicht sollte man sich auch beizeiten überlegen, wie man das letzte Lebensdrittel so gestalten kann, dass ein Sinn darin liegt. Viele machen sich schon früh Gedanken darüber, wie sie ihren Ruhestand finanzieren, mit AHV, Pensionskasse, 3. Säule, Einkommen aus Immobilien, Sparguthaben und Finanzanlagen. Aber wer macht sich Gedanken über eine spirituelle Altersvorsorge? Darüber, was man anfängt mit seiner Zeit, ob man ausreichend gut vernetzt ist, damit man nicht alleine ist, wenn die Kraft nachlässt?
Die Selbstfixierung, so Ludwig Hasler, banalisiert das Leben. Wer etwas für andere tut, hat eine Bedeutung, auch im Alter. In Gemeinschaften nach matrifokalem Muster ist die ältere Generation Teil der Vielfalt und erfüllt wichtige Aufgaben, indem sie beispielsweise ihr Wissen an jüngere Generationen weitergibt und bei der Betreuung der Kinder mithilft. Alte Menschen sind eingebunden in ein lebendiges System, in dem sie geschätzt und getragen werden und das sie bereichern mit Wissen und Lebenserfahrung, bis zum letzten Atemzug.
Dieser Text erschien leicht abgeändert erstmals hier auf der Website des Zeitpunkt Magazins.
Mehr dazu
- «Für ein Alter, das noch etwas vorhat», von Ludwig Hasler
- Warum arbeiten wir so viel? Hier bei Wild & mutig


