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Sex – Die wahre Geschichte

Es lohnt sich immer, gängige Narrative unter die Lupe zu nehmen. Ein solches Narrativ ist auch die monogame Paarbeziehung. Von Bedeutung ist das insbesondere, weil sowohl die Ehe wie auch die Kleinfamilie Eckpfeiler des Patriarchats sind, in dem wir seit mehr als 5000 Jahren leben.

Die These: Monogamie ist ein gesellschaftliches Konstrukt, das sich mit Beginn der Sesshaftigkeit entwickelt hat. Es hat zu Besitzdenken, Betrug, Frustration, Unterdrückung und zahlreichen Rosenkriegen geführt, mit den entsprechenden Folgen für alle Beteiligten.

Entspricht uns die Monogamie überhaupt?

Christopher Ryan und Cacilda Jetha attackieren in ihrem Buch «Sex – Die wahre Geschichte» das «Standard-Narrativ», das herrschende Paradigma der Verhaltensbiologie. Demnach suchen Frauen ressourcenreiche Männer und letztere junge attraktive Frauen. Beide Geschlechter kontrollieren sich eifersüchtig und sind darauf bedacht, dass es trotz gegenläufiger Impulse halbwegs monogam zugeht. Das Buch ist keine Aufforderung zu Polyamorie oder Gruppensex, sondern vielmehr eine Anregung zu einem entspannteren Umgang mit Sexualität.

Die Frage lautet: Entspricht uns die Monogamie überhaupt?

Man könnte es nicht meinen, wenn man die Tatsachen betrachtet. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung geht fremd; je nach Statistik, die man konsultiert, sind es mehr als 40 Prozent. Und weitere 20 Prozent könnten es sich vorstellen, halten sich aber zurück. Zitat aus dem Buch: «Jede zweite Ehe zerbricht in einem Strudel aus sexueller Frustration, Langeweile, schwindender Libido, Seitensprüngen, Funktionsstörungen, Verwirrung und Scham.»

«Amerikaner geben mehr Geld in Stripclubs aus als insgesamt für Theater, Oper, Ballett und klassische Konzerte.»

U.S. News and World Report

Und weiter: «Laut der American Medical Association leiden etwa 42 Prozent der amerikanischen Frauen unter sexuellen Funktionsstörungen, während die Verkaufszahlen von Viagra Jahr um Jahr sämtliche Rekorde brechen», schreiben die Autoren. «Die weltweiten Einnahmen aus Pornografie werden auf jährlich 57 bis 100 Milliarden Dollar geschätzt. In den USA sind sie grösser als die der drei grossen Fernsehanstalten (CBS, NBC und ABC) zusammen und übersteigen auch die Lizenzeinnahmen aus Football, Baseball und Basketball. Im U.S. News and World Report heisst es: ‚Amerikaner geben mehr Geld in Stripclubs aus als insgesamt für Theater, Oper, Ballett und klassische Konzerte‘.»

Augenfällig sind auch die «Verfehlungen» zahlreicher Politiker und Kirchenmänner, die vollmundig von Familienwerten sprechen und dann bei heimlichen Stelldicheins mit Geliebten, Prostituierten und Praktikantinnen Kopf, Kragen und Karriere riskieren. Warum?

Wir befinden uns im Krieg mit unseren erotischen Sehnsüchten

Gemäss dem Standard-Narrativ ist Monogamie naturgegeben. Gleichzeitig befinden wir uns im Krieg mit unseren erotischen Sehnsüchten. Die Autoren bestreiten nicht, dass sich das gängige Verhaltensmuster (Mädchen und Junge treffen sich, man checkt sich ab, er schaut nach Anzeichen für Jugend und Fruchtbarkeit, sie nach Wohlstand usw.) in vielen Teilen der modernen Welt so abspielt. Sie halten es allerdings nicht für einen Bestandteil der menschlichen Natur, sondern für eine Anpassung an gesellschaftliche Bedingungen.

Nach Meinung der Kulturkritikerin Laura Kipnis erzeugt die Tyrranei der Zweisamkeit eine zentrale Angst in der modernen Liebe, nämlich «die Erwartung, dass Romantik und erotische Anziehung in einer Partnerschaft ein Leben lang anhalten können, wo doch alles darauf hinweist, dass dies eben nicht der Fall ist».

Wir gründen unsere Existenz auf einem brüchigen Fundament

Der Mythos der monogamen Ehe kollidiert mit unseren angeborenen Trieben, und ausgerechnet auf diesem brüchigen Fundament gründen wir unsere heiligsten Beziehungen. Familien brechen auseinander, weil einer der Partner fremd gegangen ist. Ist es wirklich eine «erwachsene» Lösung, dass jemand deswegen die Familie verlässt, dass Kinder ohne Vater oder Mutter aufwachsen und dass Alleinerziehende unter der Mehrfachbelastung zerbrechen?

Gegen das Konzept der Monogamie spricht die Art und Weise, wie wir als Menschen beschaffen sind. Nach Meinung der Autoren sind die biologischen Gegebenheiten Belege für eine prähistorische Promiskuität. Nun fragt sich natürlich, ob das heute noch gilt, oder ob wir uns als Spezies nicht weiter entwickelt haben sollten.

Es fragt sich auch, ob vielen von uns die (serielle) Monogamie als stimmig erscheint, weil wir es aufgrund der patriarchalen Prägung nicht anders kennen.

Sex – Die wahre Geschichte

Spirituelle Lehrer wie David Deida und andere propagieren Monogamie als eine Art «heiligen Container», als spirituellen Pfad, der uns zum Erleben wahrer Intimität führt. Will heissen: Wer mit mehreren Menschen sexuelle Beziehungen pflegt, geht in die Breite; wer sich auf eine/n Partner/in beschränkt, geht in die Tiefe. Propagiert wird «Conscious» oder «Awakened Monogamy», und wenn damit gemeint ist, dass man nicht wahllos mit allen in die Kiste springt, die einem gerade über den Weg laufen, stimme ich dem zu. Sexuelle Kontakte bedeuten immer einen Austausch von Energie, und man sollte sich gut überlegen, mit wem man sich darauf einlässt.

Wenn aber im Zusammenhang mit Sexualität von Heiligkeit gesprochen wird, schrillt bei mir der Patriarchatsalarm, denn das Heilige kommt vom Himmel ( = männlich). Ursprung der Sexualität ist aber nicht der Himmel, sondern die Natur ( = weiblich). Es lohnt sich also zu prüfen, wo eine Aussage, eine Idee oder eine Empfehlung ihre Wurzeln hat, bevor man entscheidet, welche Haltung man dazu einnehmen will.

Monogamie als patriarchale Prägung

Möglicherweise erscheint die (serielle) Monogamie vielen von uns als stimmig, weil wir es aufgrund der patriarchalen Prägung nicht anders kennen. Für mich ist klar, dass die Monogamie eng mit dem Konzept der Kleinfamilie verknüpft ist, die uns überforderte, allein erziehende Elternteile (vorwiegend Mütter), entwurzelte Kinder und einsame Betagte beschert. Ich gehe einig mit dem Verhaltensforscher Frans de Waal, der über das Buch sagt: «Ob es den Leuten gefällt oder nicht: die darin aufgeworfenen Fragen müssen unbedingt debattiert werden.»

Dieser Text erschien leicht abgeändert erstmals auf der Website des Zeitpunkt Magazins.